Atropin ist ein Racemat aus D- und L-Hyoscyamin, das in verschiedenen Nachtschattengewächsen (Solanaceae) wie z. B. Tollkirsche (Atropa belladonna), Stechapfel (Datura stramonium) und Bilsenkraut (Hyocyamus niger) vorkommt. Für die parasympatholytische Wirkung ist vorwiegend das 20-mal stärker wirksame L-Hyoscyamin verantwortlich. Atropin weist Strukturmerkmale des Neurotransmitters Acetylcholin auf. Es wirkt als ein kompetitiver Antagonist an allen muskarinischen Acetylcholin-Rezeptoren des Parasympathikus, weil es Acetylcholin an der postsynaptischen Membran von seinem Rezeptor verdrängt und die Signalübertragung zu den jeweiligen Effektorzellen hemmt. Atropin ist daher die Standardsubstanz für ein Parasympatholytikum.
Hinweis: Erst in sehr hoher Dosierung hemmt Atropin die Erregungsübertragung an nikotinischen Acetylcholin-Rezeptoren in Ganglien und an der motorischen Endplatte. Dieser Umstand kann bei der Therapie der Organophosphat-Vergiftung lebensrettend sein.
Es gibt 5 Typen von muskarinischen Acetylcholin-Rezeptoren, die in 2 Familien eingeteilt werden und alle G-Protein-gekoppelt sind.
Zur sog. M1-Familie gehören die M1-, M3- und M5-Rezeptoren, die über stimulierende Gq-Proteine gekoppelt sind. Über Gq wird die Phospholipase C aktiviert, die dann wiederum Inositoltriphosphat (IP3) und Diacylglycerin (DAG) freisetzt. IP3 setzt Calcium-Ionen aus dem endoplasmatischen Retikulum frei, DAG aktiviert die Proteinkinase C.
Die M2-Familie besteht aus den Gi-gekoppelten M2- und M4-Rezeptoren. Über eine Senkung von cAMP werden 2 Mechanismen gesteuert: Zum einen werden HCN-Kanäle (= hyperpolarization-activated cyclic nucleotide-gated cation channel = „funny channel =If-Kanal), die für den langsam einwärts gerichteten Natrium-Einstrom in die Schrittmacherzellen sorgen, gehemmt. Zum anderen werden rezeptorgesteuerte Kalium-Kanäle (= G-protein activated inwardly rectifying K+ channel = GIRK-Kanäle) geöffnet. Über einen gesteigerten Kalium-Ausstrom kommt es zur Hyperpolarisation an der Effektorzelle und damit zu einer verminderten Erregbarkeit.
Für die Pharmakologie sind die M1-, M2- und M3-Rezeptoren von Interesse:
M1-Rezeptoren finden sich im Gehirn. Sie vermitteln kognitive Fähigkeiten wie Lernen und Aufmerksamkeit. Im Corpus striatum finden sich viele cholinerge Interneurone, die bei Aktivierung eine Enthemmung vermitteln. Diese Enthemmung zeigt sich besonders beim Morbus Parkinson, bei dem durch einen Dopaminmangel die nun übermäßige Enthemmung zum Ruhetremor führt. Am Auge wird über M1-Rezeptoren des Musculus sphincter pupillae eine Miosis und über den Ziliarmuskel eine Nahakkomodation vermittelt.
M2-Rezeptoren befinden sich an den Schrittmacherzellen im Sinus- und AV-Knoten des Herzens. Bei Aktivierung haben sie einen negativ chronotropen (= Herzfrequenz-senkenden) und negativ dromotropen (= Überleitungszeit verlängernden) Effekt.
M3-Rezeptoren finden sich an sekretorischen Drüsen und der glatten Muskulatur. Tränendrüsen, Speicheldrüsen sowie die Drüsen im Verdauungstrakt und Bronchialtrakt werden zur Sekretion angeregt; ebenso die Schweißdrüsen, die zwar sympathisch innerviert sind, aber über muskarinische Acetylcholin-Rezeptoren erregt werden. Am Gefäßendothel wird über M3-Rezeptoren NO freigesetzt, das die umspannende glatte Gefäßmuskulatur dilatiert. An den Bronchien kommt es durch Erregung der glatten Muskulatur zur Bronchokonstriktion. Im Verdauungstrakt werden Motilität und Tonus der glatten Muskulatur erhöht bei gleichzeitiger Erschlaffung der Sphinkter-Muskulatur. Das erleichtert die Defäkation. In der Harnblase wird der Tonus des glatten Musculus detrusor vesicae (= „Harnaustreiber“) erhöht, was die Kontraktion der Harnblase (= Miktion) erleichtert.
Atropin als kompetitiver Antagonist an den muskarinischen Acetylcholin-Rezeptoren wirkt nun allen oben angeführten Effekten entgegen. Die sich daraus ergebenen Effekte werden in der Pharmakologie als sog. anticholinerge Wirkung bzw. Nebenwirkungen zusammengefasst:
- Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Verwirrtheit,
- trockene Augen, Mydriasis (= Pupillenweitstellung), Akkomodationsstörung,
- Tachykardie,
- Bronchodilatation,
- Mundtrockenheit,
- Obstipation,
- Harnverhalt,
- trockene Haut.
Viele Arzneistoffe wie z. B. tricyclische Antidepressiva oder Neuroleptika blockieren auch muskarinische Acetylcholin-Rezeptoren und führen dann zu mehr oder weniger ausgeprägten anticholinergen Nebenwirkungen. Dabei ist die Mundtrockenheit häufig das erste Anzeichen für eine anticholinerge Wirkung.
Atropin wird üblicherweise als Atropinsulfat i.v. injiziert. Der Wirkeintritt ist nach etwa 45 Sekunden. Eine subcutane oder intramuskuläre Gabe ist möglich, die maximalen Plasmaspiegel nach intramuskulärer Gabe sind dann nach etwa 30 Minuten erreicht. Nach intravenöser Gabe fällt der Plasmaspiegel innerhalb der ersten 10 Minuten sehr schnell ab. Die Elimination erfolgt biphasisch mit Plasmahalbwertszeiten von 2 bis 3 Stunden bzw. 12 bis 38 Stunden. Die Elimination erfolgt hauptsächlich renal, wobei etwa 50 % in der Leber durch Glucuronidierung oder Esterspaltung metabolisiert werden. Atropinsulfat ist plazentagängig und nicht dialysierbar. Es geht in geringen Mengen in die Muttermilch über.
Aufhebung der Wirkung nicht-depolarisierender Muskelrelaxantien
Bei Beendigung einer Narkose, während der nicht-depolarisierende Muskelrelaxantien wie z. B. Pancuronium oder Vecuronium eingesetzt wurden, wird häufig Neostigmin als indirekt wirkendes Parasympathomimetikum gegeben. Durch Hemmung der Acetylcholinesterase wird dadurch die Konzentration von Acetylcholin im synaptischen Spalt erhöht und das nicht-depolarisierende Muskelrelaxans vom nikotinischen Acetylcholin-Rezeptor verdrängt, was die Wirkung des Muskelrelaxans rascher beendet. Da Neostigmin aber auch auf muskarinische Acetylcholin-Rezeptoren wirkt, kann es bei Gabe von Neostigmin über eine agonistische Wirkung an den M2-Rezeptoren im Sinus- und AV-Knoten des Herzens zu gefährlichen Bradykardien kommen. Um dies zu verhindern, wird zusätzlich zu Neostigmin Atropin als kompetitiver Antagonist am muskarinischen Acetylcholin-Rezeptor gegeben.
Atropinvergiftung
Bei einer Atropin-Vergiftung nach dem Verzehr von Tollkirschen (Atropa belladonna) werden die anticholinergen Effekte besonders ausgeprägt. Auffällige Symptome sind Unruhe, Verwirrtheit, Halluzinationen, Mydriasis, Lichtscheu, verschwommenes Sehen, Tachykardie, Mundtrockenheit, Schluckbeschwerden, Durst, Harndrang bei erschwerter Miktion und Hyperthermie. Die Haut ist rot, trocken und heiß, da die Temperaturregulierung über die Schweißproduktion durch Hemmung der Schweißdrüsen nicht mehr funktioniert und als einzige Möglichkeit zur Wärmeabgabe nur die Weitstellung der Hautgefäße bleibt. Lebensbedrohlich werden sehr hohe Dosierungen von Atropin, wenn zusätzlich klonische Krämpfe, Koma und Atemdepression hinzukommen. Der Tod erfolgt durch Atemlähmung. Eine Atropin-Vergiftung wird mit dem indirekten Parasympathomimetikum Physostigmin behandelt. Es hemmt die Acetylcholinesterase und erhöht so die Konzentration von Acetylcholin im synaptischen Spalt, so dass Atropin kompetitiv vom Acetylcholin-Rezeptor verdrängt werden kann.